Konstantin „Kostya“ Dmitrievitch Levin

Levin war ursprünglich eine Randfigur im Roman, aber in der endgültigen Version war er zu seinem Co-Protagonisten geworden, so zentral wie Anna selbst. Levin ist ein verschleiertes Selbstporträt des Autors: Sein Name enthält Tolstois Vornamen (Lev auf Russisch), und viele Details seiner Liebeswerbung — einschließlich des fehlenden Hemdes bei der Hochzeit — stammen direkt aus Tolstois Leben. Ljewin ist somit ein Sprecher für Tolstois eigene Ansichten und Wünsche, wie seine hartnäckige Suche nach dem Sinn des Lebens. Levins Glaubensbekenntnis am Ende des Romans spreizt die Grenze zwischen Kunst und Moral — halb Fiktion, halb Philosophielektion — und entspricht Tolstois Hinwendung zur Religion, nachdem er Anna Karenina geschrieben hat.
Ljewin ist unabhängig und sozial unbeholfen und ein wahrhaft individueller Charakter, der in keine der offensichtlichen Klassifikationen der russischen Gesellschaft passt. Er ist weder ein freidenkender Rebell wie sein Bruder Nikolai noch ein Intellektueller wie sein Halbbruder Sergei. Er ist weder ein Prominenter wie Betsy, noch ein Bürokrat wie Karenin, noch ein Schurke wie Veslovsky. Levin spreizt die Frage des Schicksals Russlands als westliche Nation: Er misstraut Liberalen, die Russland verwestlichen wollen, und lehnt ihren analytischen und abstrakten Ansatz ab, erkennt aber andererseits den Nutzen westlicher Technologie und Agrarwissenschaften an. Kurz gesagt, Levin ist seine eigene Person. Er folgt seiner eigenen Sicht der Dinge, auch wenn sie verwirrt und neblig ist, anstatt vorgefertigte Ansichten einer Gruppe zu übernehmen. Darüber hinaus bevorzugt Ljewin die Isolation gegenüber der Anpassung an ein soziales Umfeld, mit dem er sich nicht ganz wohl fühlt. Darin ähnelt er Anna, deren Geschichte ein Gegenstück zu seiner eigenen ist, auf der Suche nach Selbstdefinition und individuellem Glück.
Trotz seines Status als Einzelgänger ist Ljewin nicht egozentrisch, und er zeigt keine Anzeichen, sich als außergewöhnlich oder überlegen zu betrachten. Wenn Tolstoi Levin im Roman zum Helden macht, liegt sein Heldentum nicht in seinen einzigartigen Leistungen, sondern in seiner Fähigkeit, gemeinsame menschliche Erfahrungen zu genießen. Seine unvergesslichsten Erlebnisse im Roman — seine Glückseligkeit, verliebt zu sein, seine Angst um seine Frau bei der Geburt — sind nicht selten oder aristokratisch, sondern werden von Millionen geteilt. Jeder kann diese Gefühle fühlen; Ljewin ist etwas Besonderes, sie einfach so tief und offen zu fühlen. Diese Gemeinsamkeit verleiht ihm eine humanitäre Breite, die kein anderer Charakter im Roman zeigt. Sein Trost bei seinen Bauern und sein Abscheu vor sozialen Ansprüchen charakterisieren ihn als gewöhnlichen Mann, der trotz seiner aristokratischen Abstammung zum russischen Volk gehörte. Wenn Ljewin einen ganzen Tag lang neben seinen Bauern mäht, haben wir kein Gefühl dafür, dass er absichtlich mit den Bürgerlichen schlummert — er genießt aufrichtig die Arbeit. Tolstois Darstellung von Ljewins endgültiger Entdeckung des Glaubens, die er von einem Bauern lernt, ist ebenso gewöhnlich. In dieser Hinsicht verkörpert Levin die einfachen Tugenden des Lebens und Tolstois Vision eines vorbildlichen Menschen.

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